BET Energie

28.09.2020 | Webmagazin 2020/04 Hausaufgabenheft Redispatch 2.0

Damit niemand sitzen bleibt von Dr. Sören Patzack und Dr. Andreas Nolde
soeren.patzack@bet-energie.de

Wer hat die Hoheit über das Flexibilitätspotenzial im Verteilnetz? Nach ausgiebigen und mitunter hitzigen Diskussionen wurde diese Frage im Mai 2019 vom BMWi mit dem Netzausbau-beschleunigungsgesetz (NABEG 2.0) beantwortet: Der Verteilnetzbetreiber darf ab 1. Oktober 2021 Redispatch im eigenen Verteilnetz nutzen. Mit der planwertbasierten Regelung von Erzeugungsanlagen werden eigene oder vorgelagerte Netzengpässe behoben und das bisherige Einspeisemanagement abgelöst. Ein Instrument, vormals für konventionelle Anlagen über 10 MW für das Übertragungsnetz gestaltet, wird auf konventionelle und erneuerbare Anlagen ab 100 kW sowie alle durch den Netzbetreiber steuerbaren Anlagen ausgeweitet und darf auch im Verteilnetz genutzt werden. Der Lehrstoff für das Redispatch-2.0-Schuljahr ist somit klar definiert – und alle freuen sich darauf, dass es los geht. Oder?

Die Hausaufgaben, mit denen sich Verteilnetzbetreiber 12 Monate vor Scharfschaltung des neuen Instruments befassen müssen, sind vielfältig. Exemplarische Fragestellungen in verschiedenen Themenbereichen umreißen den Implementierungsaufwand: 

  1. Neue Stammdaten müssen erhoben und in bestehende Systeme eingespielt werden – sofern diese Erweiterung möglich ist („Habe ich von allen Anlagen neue erforderliche Informationen zu Mindeststillstandszeiten und Anfahrrampen vorliegen?“).
     
  2. Werkzeuge für die Einspeiseprognose, Netzzustandsbewertung und Ermittlung von Redispatch-Maßnahmen müssen spezifiziert und angeschafft werden („Erweitere ich das Leitsystem um ein weiteres Modul – oder vertraue ich einem der „jungen Wilden“?“).
     
  3. Eine geeignete Steuerungsschnittstelle sowie die entsprechenden technischen Einrichtungen für den Redispatch-Abruf sind erforderlich („Wie viel Fernwirktechnik ist in den nächsten Monaten nachzurüsten? Muss die Funkrundsteuerung ersetzt werden?“).
     
  4. Abrechnungs- und Bilanzierungsprozesse müssen erweitert werden („Muss die Berechnung der Ausfallarbeit modifiziert werden? Was ist mit den MaBiS-Prozessen?“).
     
  5. Parallel zu internen Aufgaben müssen die aktuellen BNetzA-Konsultationen, die Aktivitäten im BDEW sowie die Arbeiten des Connect+-Konsortiums im Auge behalten werden („Was heißt diese vierte Konsultation der BNetzA in den letzten 4 Wochen für mich?“).
     

Der logische Weg bei der Einführung von Redispatch 2.0 für den individuellen Netzbetreiber: Die Anforderungen sind in Abhängigkeit betroffener Anlagen und möglicher Engpässe im eigenen Netz zu analysieren und priorisieren. Nach dieser Betroffenheitsanalyse muss basierend auf der vorhandenen IT- und Datenlandschaft das Zielbild zur Erfüllung des kompletten Redispatch-2.0-Prozesses, beschrieben in den Dokumenten des BDEW, BNetzA und Connect+, abgeleitet werden. Eine Delta-Analyse zeigt den tatsächlichen Anpassungsbedarf – welche Software muss erweitert/angeschafft werden, was soll der Dienstleister übernehmen, welche zusätzlichen Daten sind in welchen Systemen erforderlich, welche Schnittstellen (intern und extern) müssen neu geschaffen und welche Prozesse angepasst werden.

Dieses „Hausaufgabenheft“ sollte spätestens Ende des Jahres erstellt werden – im nächsten Jahr ist die bereits bekannte Aufgabenliste mit Ausschreibung, Beschaffung, Implementierung und Testung der neuen Systeme schon lang genug. Und sitzen bleiben möchte doch niemand. Die Hoffnung auf die Hilfe des vorgelagerten Netzbetreibers mag kurzfristig ein rettender Ausweg sein, langfristig besteht dabei aber die Gefahr einer steigenden Abhängigkeit. Eine wichtige Motivation gegen das Schwänzen: Die Aufwendungen für die Umsetzung von Redispatch 2.0 sind regulatorisch anerkennungsfähig.


Zurück zu Webmagazin