20.09.2021 | Webmagazin 2021/04 „Projekt 42“ oder wie alles mit allem interagiert

Die Interdependenzen des bevorstehenden Wandels Dominic Nailis
dominic.nailis@bet-energie.de

Es mangelt nicht an Ratschlägen, Studien und Listen, was nach der Wahl unbedingt passieren muss. Die Pläne haben 16, 40 oder noch mehr Punkte und dabei eines gemeinsam: Genau so wird es nach den Koalitionsverhandlungen nicht kommen. Klar ist, dass fast alle Bereiche der Energiewirtschaft umgestaltet werden müssen, wenn wir die Aufgabe der Klimaneutralität gemäß den gesetzlichen Verpflichtungen umsetzen wollen. Was sind die Handlungsfelder?


Im Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ wird die Frage „nach Allem“ von einem Supercomputer mit „42“ beantwortet. Ähnlich umfassend und verwirrend scheint auf den ersten Blick die Herausforderung, vor der die Energiewirtschaft im Wandel zu einer in sich konsistenten Umsetzung des Klimaschutzgesetzes und der Energiewende steht. Alles steht in Frage, alles beeinflusst sich gegenseitig. Dennoch lässt sich die Aufgabe strukturieren.

Erzeugungssystem umgestalten
Die Erste Aufgabe besteht darin, das Erzeugungssystem umzubauen. Der Ausbau der EE muss durch Abschaffung hinderlicher Regelungen wie „10h“, durch vereinfachte und insbesondere beschleunigte Verfahren für Planung und Genehmigung, durch echte Beteiligung der betroffenen Bevölkerung und durch eine Reform der Anreiz- und Vergütungssysteme („post EEG“) massiv angekurbelt werden, denn, ganz schlicht: Wir brauchen die Energie im System. 
Zugleich steht der Kohleausstieg vor der Tür. Die Schaffung von Ausgleich ist nicht nur energetisch/bilanziell notwendig. Es muss also nicht nur gewährleistet sein, dass auch bei steigender Nachfrage nach Strom ausreichend Kapazität vorhanden ist. Ausgleich ist auch durch Flexibilitäten auf Last- und Erzeugungsseite und die dazu passenden Anreize (z. B. Tarife, Netzentgelte, SIP) und durch Speicher zu schaffen. Der Hochlauf des Energieträgers Wasserstoff nimmt beim Thema Speicherung eine Schlüsselrolle ein.
Darüber hinaus benötigt das angestrebte Erzeugungssystem eine um- und ausgebaute Infrastruktur. Stromnetze und Gas- bzw. Wasserstoffinfrastrukturen und auch die Wärmeversorgung müssen auf die neue Welt vorbereitet werden. All diese Medien gemeinsam in einem Systementwicklungsplan zu denken, ist dringend geboten. Um ineffiziente Förderungen bzw. staatliche Hilfen einerseits, aber auch Stranded Investments zu vermeiden, sollten die Rolle und Perspektive der Gasnetze neu gedacht werden.

Effizienz steigern
Eine Herkulesaufgabe besteht – auch wenn sie nicht neu ist – im Energiesparen. Kein seriöses Net-Zero-Emissionsszenario kommt ohne massive Reduktion des Primärenergieverbrauchs aus. Hinter dem heute hohen Verbrauch stehen aber langlebige Wirtschaftsgüter wie Industrieanlagen (und die verbundenen Prozesse) und Gebäude. Nur durch eine stark beschleunigte Modernisierung von Gebäuden, Geräten und Industrieprozessen kann die benötigte Effizienzsteigerung erzielt werden. Ob das gelingen kann, hat viel mit Anreizen zu tun, also der Frage, ob die Einzelnen eher mehr Geld ausgeben oder sparen werden, wenn sie sich CO2-neutral verhalten. 

Negative Emissionen ermöglichen
Sie haben einen schlechten Ruf, aber ohne sie wird es nicht gehen: Die CO2-Senken. CCU, also die Nutzung von CO2 in industriellen Prozessen, wird einen Beitrag leisten. Um aber verbleibende Emissionen in 25 bis 30 Jahren zu kompensieren, wird es notwendig sein, CO2 aktiv aus der Atmosphäre zu entfernen. Derzeit sieht es nicht so aus, als würden die Senken in Landwirtschaft und Natur hierfür ausreichen, also müssen wir anfangen, wieder über CCS zu sprechen. Dazu gehört ehrlicherweise nicht nur die Lagerstätte, sondern auch eine CO2-Infra-
struktur

Die Herausforderungen sind anspruchsvoll, vielfältig und höchst interdependent. Die bis hierher genannten Schlagworte geben nur einen ersten Überblick. Es wird darauf ankommen, mit echtem politischem Willen zu Beginn der neuen Legislatur unter Nutzung fundierter Sachkenntnis die fachlich richtigen und dabei verlässlichen Rahmenbedingungen für die Akteure der Energiewirtschaft zu schaffen. Innovationskraft und Leistungsbereitschaft in der Branche sind vorhanden.


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