23.04.2024 | Webmagazin 2024/02 Vermeiden Sie einen Blindflug bei der Blindleistung

Ausweisung des nicht gedeckten Blindleistungsbedarfs im Verteilnetz in den Netzausbauplänen nach § 14d EnWG Dr. Markus Kraiczy | Lukas Wammes
markus.kraiczy@bet-energie.de

Die Verteilnetze werden in den nächsten Jahren zunehmend Systemdienstleistungen zur Stützung des gesamten deutschen Stromnetzes übernehmen. In der BMWK „Roadmap Systemstabilität“ ist die Einführung einer marktgestützten Blindleistungsbeschaffung zur Spannungsregelung der erste Meilenstein im Jahr 2024. Davon sind auch die Verteilnetzbetreiber betroffen. Die Bundesnetzagentur fragt daher in den Netzausbauplänen nach § 14d EnWG den mittel- bis langfristigen nicht gedeckten Blindleistungsbedarf in den Verteilnetzen ab. Doch wie entwickelt sich der Blindleistungsbedarf in den Verteilnetzen überhaupt und wie kann er zukünftig gedeckt werden? Erste Erfahrungswerte und Einschätzungen werden in diesem Beitrag vorgestellt.  

Nach § 14d EnWG müssen VNB mit mehr als 100.000 Kunden oder bei relevanter Abregelung von Wind- und Solaranlagen bis zum 30. April dieses Jahres einen mittel- bis langfristigen Netzausbauplan bei der Bundesnetzagentur (BNetzA) einreichen. Im Fragebogen der BNetzA wird u.a. der marktlich zu beschaffende Blindleistungsbedarf bzw. der nicht gedeckte Blindleistungsbedarf für die Jahre 2028, 2033 und 2045 der Verteilnetze abgefragt. Da das Konzept der marktgestützten Blindleistungsbeschaffung noch nicht beschlossen ist und auch sonst keine genaue Definition zum nicht gedeckten Blindleistungsbedarf erfolgt, dient die Abfrage wohl vorrangig der Sensibilisierung und Vorbereitung der VNB auf diese Thematik. Die marktgestützte Blindleistungsbeschaffung soll laut BMWK „Roadmap Systemstabilität“ noch in diesem Jahr eingeführt werden. Man darf also gespannt sein…


Die Anwendungsregel VDE-AR-N 4141-2 (Schnittstelle zwischen Verteilnetzbetreibern) setzt die Rahmenbedingungen für die zukünftige Ausgestaltung der Blindleistungsanforderung zwischen den VNB. Zur Stützung des Gesamtsystems ist in der Anwendungsregel eine möglichst lokale Blindleistungskompensation durch die Netzbetreiber vorgesehen. Die Anforderungen an den zulässigen Blindleistungsaustausch nach VDE-AR-N 4141-2 sind bis September 2026 umzusetzen. Die Abbildung zeigt ein typisches Wirk-Blindleistungsverhalten an einer VNB/VNB-Schnittstelle und den Bereich des zulässigen Blindleistungsaustausches nach VDE-AR-N 4141-2. Im Rahmen der mittel- bis langfristigen Netzentwicklung werden häufig folgende Entwicklungstrends für den Blindleistungsbedarf der Verteilnetze identifiziert:


(1) Starklastfall und (2) Starkeinspeisungfall:

Die Last und die Einspeisung nehmen in den Verteilnetzen in den nächsten Jahren deutlich zu. Leitungen und Transformatoren werden in diesen Netznutzungsfällen zunehmend stärker ausgelastet und die Verteilnetze verhalten sich bei hoher Belastung zunehmend untererregt (wie eine Spule). Im Einspeisefall kann eine lokale Blindleistungsregelung der EE-Anlagen (z.B. cosphi(P)-Kennlinie) zur lokalen Spannungshaltung das untererregte Blindleistungsverhalten zusätzlich verstärken. Die Einhaltung von cosphi > 0,9 an der VNB/VNB-Schnittstelle kann i.d.R. gewährleistet werden. Zudem ist in diesen Netznutzungsfällen mit steigender Blindleistungsflexibilität im Verteilnetz zu rechnen (u.a. durch EE-Anlagen und DC-Ladepunkte nach VDE AR-N 4110, 4120).


­→ Netznutzungsfälle i.d.R. relevant für die Ermittlung des spannungshebenden Blindleistungsbedarfs im Verteilnetz


(3) Geringe Last / Geringe Einspeisung:

Aufgrund der steigenden Anforderungen werden Leitungen in den Verteilnetzen umfassend verstärkt und ausgebaut, zusätzlich werden Freileitungen durch Kabel ersetzt. Hoch- und Mittelspannungskabel verhalten sich bei geringer Auslastung (i.d.R. nachts) wie ein Kondensator und folglich nimmt das übererregte Verhalten der Verteilnetze bei geringer Auslastung deutlich zu. In diesem Netznutzungsfall kann die Einhaltung des freien Blindleistungsaustausches nach VDE AR-N 4141-2 in einem großen Teil der Verteilnetze nicht mehr gewährleistet werden. Zudem ist das Blindleistungsflexibilitätspotenzial in diesem Netznutzungsfall i.d.R. gering, da Einspeiser und Verbraucher nach den technischen Anwendungsregeln ohne Wirkleistungseinspeisung keine Blindleistungsflexibilität bereitstellen müssen.


­→ Netznutzungsfall i.d.R. relevant für die Ermittlung des spannungssenkenden Blindleistungsbedarfs


Bereich für zulässigen Blindleistungsaustausch nach VDE-AR-N-4141-2 und typisches Wirk-Blindleistungsverhalten eines Verteilnetzes


Die geplante Einführung der marktgestützten Blindleistungsbeschaffung könnte hier Abhilfe schaffen. Neben der Investition in neue Kompensationsanlagen können auch moderne PV- und Windanlagen als Dienstleistung über den Anforderungen der technischen Anwendungsregeln hinaus gesichert Blindleistung für den Netzbetrieb bereitstellen (z. B. PV-Anlagen mit Q@Night oder 24/7 Q-Funktion, Windparks mit STATCOM-Funktion). Der Entwurf des Beschaffungskonzepts (BK6-23-072) sieht zunächst eine markgestützte Beschaffung in den Höchst- und Hochspannungsnetzen vor. Die Hochspannungsnetzbetreiber werden jedoch die unterlagerten VNB an den Blindleistungsbeschaffungskosten beteiligen wollen. In einigen Praxisbeispielen werden bereits die Blindleistungsanforderungen an Verteilnetzschnittstellen verschärft, Pönalen für ungewünschten Blindleistungsaustausch erhoben oder auch eine Beteiligung an Kompensationsanlagen umworben. Um als VNB ein langfristig sinnvolles Blindleistungsmanagement im eigenen Netz zu etablieren und Fehlinvestitionen zu vermeiden, ist es wichtig den Blindleistungsbedarf und das Blindleistungsstellpotenzial (von integrierten Netzbetriebsmitteln und auch Kundenanlagen) im eigenen Netzgebiet mittel- bis langfristig abschätzen zu können. Der Netzausbauplan nach § 14d EnWG kann eine Orientierung bei der Entwicklung des Blindleistungsbedarfs im eigenen Verteilnetz geben und sollte somit nicht nur als notwendige Pflichtaufgabe angesehen werden.

Insgesamt wird das Thema Blindleistungsmanagement und -kompensation in den nächsten zwei Jahren bei den VNB wieder in den Fokus rücken (müssen). Gehen Sie also nicht blind in die Zukunft und sprechen Sie uns bei Blindleistungs-Fragestellungen gerne an!


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